Quirrestraße 10 der Hundebiss
Wir, die Kinder der Quirrestraße und die zugereisten Kinder aus den umliegenden Straßen spielten im Sommer 1960 oder 1961 Fußball mit einem Flummi auf dem kleinen, freien Platz vor der Nr. 12, dem Haus von Kaufmann Schröder.
Der Laden von Herrn Schröder war einer der damals noch typischen Tante Emma Läden. In diesem Laden lernte ich das erste Mal in meinem Leben was Fortschritt heißt und das Entwicklung Veränderung bedeutet. Am Anfang meiner Zeit der eigenen Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten schickte mich meine Mama regelmäßig zum Milch holen. Natürlich wusste ich, ich musste die Milchkanne nehmen und rüber zu Schröder gehen. Der hatte eine eigene „Zapfanlage“ und füllte die Kanne mit guter Vollmilch.
Irgendwann, ich kann leider nicht mehr sagen wann das war, hatte die Milchkanne ausgedient. Die Plastikverpackung hatte bei Schröder Einzug gehalten, war billiger. Meine Mutti war der Mediawerbung Jahrzehnte voraus, soll heißen, sie war nicht blöd und so kaufte wir fortan Milch in den Vorläufern des Tetrapacks. Natürlich hat damals keiner an den kommenden Abfallwust gedacht. Für mich als Kind war der Fortschritt ein deutlicher Schritt in die falsche Richtung. Unterwegs war es nicht mehr möglich einen unbeobachten Schluck aus der Kanne zu nehmen, auch der spaßige Wirbel mit der Kanne, bei dem möglichst kein Tropfen Milch verschüttet werden durfte, hatte ausgedient. Stattdessen eine flutschige Milchverpackung deren Inhalt sich im Eifer des Gefechts schon mal am Boden wiederfand, was dann immer Ärger für uns bedeutete.
Aber zurück zu unserem Fußballspiel. Da wir in der Straße auf dem Bürgersteig natürlich kein Tor hatten, diente uns das Abflussloch von Schröders Mülltonnenunterstelleinrichtung als Tor (siehe Foto). Wenn ich das so lese, Mülltonnenunterstelleinrichtung denke ich, es gibt Wörter die sind als Anglizismus, bzw. Teilanglizismus einfacher und passender. Heute würde man zur Mülltonnenunterstelleinrichtung wahrscheinlich Müllbox sagen. Unser Haus Nr. 10 hatte so eine Unterstellmöglichkeit nicht, denn unser Haus wurde im Gegensatz zur Nummer 12 vor dem Krieg gebaut.
Die Mülltonnenunterstelleinrichtung Haus 12 und Mülltonne Haus 10
Ja, damals gab es noch eine Mülltonne pro Haus, das Wort Mülltrennung hatte eine gänzlich andere Bedeutung. Mülltrennung könnte früher bedeutet haben, trenne ich mich von dem Müll oder kann ich es noch für irgendetwas gebrauchen. Ein Gedanke, der uns in unserer Wegwerfgesellschaft nur äußerst selten kommt, früher aber eine Selbstverständlichkeit war, denn damals ging es den Leuten nicht wirklich gut. Vielleicht sollten einige der heute klagenden Menschen, wie schrecklich heute alles ist, mal eine Zeitmaschine buchen und sich zurück in die 50-iger Jahre beamen. Vielleicht sehen sie dann ihre heutigen Klagen ein wenig entspannter.
Ein Treffer ins Abflussrohr von Schröders Müllbox war so selten, wie bei heutigen Profimannschaften, die Fußball mit wenig peppigen Rasenschach verwechseln. Die Tore wurden aber genauso bejubelt wie ein heutiger Bundesligatreffer. Auch bei uns spielten zwei Mannschaften gegeneinander, allerdings ohne Torwart, was bei der Größe des Tores auch Sinn machte. Für mich war das insoweit günstig, dass ich nicht ins Tor musste, denn wie überall musste auch bei uns der Kleinste ins Tor und der war ich. Jeder wollte draußen Tore schießen wie Uwe Seeler oder Fritz Walter. Später sollten wir einen echten Uwe Fritz Walter in unseren Reihen haben, denn mein Bruder Uwe wurde auf den Namen Uwe Fritz Walter getauft.
Unser Tor
Wie wir da so spielten, beachteten wir den Mischlingshund, der vor Schröders Laden auf Frauchen wartete, natürlich nicht. Aber irgendwas muss ihn geärgert haben und so er riss sich los und hetzte hinter uns Kindern her. Einer der großen von uns lehnte sich an die dort stehende Gaslaterne, ich also hin, ihm in den Arm gesprungen und gedacht „Puh, in Sicherheit“. Das Blöde war nur, der Hund Lumpi, so hieß dieser undefinierbare Mischling, bei dem auf jeden Fall ein Spitz mitgemischt hatte, hatte diese grün lackierte Gaslaterne für einen Baum gehalten und als sein Revier markiert. Anstatt das der Hund nun den Großen biss, an dessen Hals ich hing, biss er mir in den Oberschenkel. Zu Hunden habe ich seitdem ein distanziertes Verhältnis.
Die Laternen hatten für uns Kinder früher eine ganz wichtige Bedeutung, denn Mutti sagte immer, ihr kommt hoch, wenn die Laternen angehen. Von daher war es gut, dass die Gasversorgung der Laternen technisch nicht wirklich stabil war. Ein Tritt gegen die Laterne reichte und das Licht ging aus. Das berechtigte uns länger draußen zu bleiben. Leider habe ich in meinem Archiv kein Foto dieser Gaslaterne bzw. einer Gaslaterne in Linden gefunden. Diese Tatsache veranlasste mich, etwas über die Gaslaternen von Hannover bzw. Linden zu recherchieren. Nachfolgend das Ergebnis.
Die ersten Laternen hatte Hannover um 1690 aufgestellt, sie wurden mit Rüböl gespeist, heute besser als Rapsöl bekannt. Doch die ca. 300 Laternen konnten nicht wirklich für Licht sorgen. Im Sommer und bei Mondschein, ließ man die Laternen gleich aus, denn das natürliche Licht war heller als das der Laternen. Es musste also was geschehen, denn bei Dunkelheit trauten sich die Hannoveraner trotz patrollierender Nachtwächter kaum noch auf die Straße. In Linden dagegen dachte niemand an Laternen, denn die Arbeiter waren froh wenn sie nach getaner Arbeit zu Hause waren und im Dunkeln ist gut munkeln. Wozu also sollte man sich mit diesem neumodischen Kram beschäftigen.
In Hannover dagegen beschloss man ca. 100 Jahre später, dass die Lampen mit Talg bespeist werden sollten. Es wurde besser aber wirklich hell ist anders. So sahen die Hannoveraner in den Lampen eher eine Dekoration als einen Lichtspender. Da die Lindener mit Dekoartikeln nichts am Hut hatten, übersprangen sie auch diesen Entwicklungsschritt und blieben lieber im Dunkeln.
Da man in Hannover mit der Beleuchtung unzufrieden war, schaute man sich im Reich des ausgeliehenen Königs um. Man ging nach England, wo noch immer Georg der IV aus Hannover regierte. Für mich unbegreiflich, aber es soll so gewesen sein, ausgerechnet die britischen Inselaffen hatten eine neue Technik gefunden, die Licht ins Dunkel brachte. Für mich sind das völlig neue Erfahrungen, denn dass Engländer ein Projekt zu Ende und sogar zum Laufen bringen und dann auch noch Licht ins Dunkel bringen, aus heutiger Sicht kaum vorstellbar.
In England schaffte man es, dass die Laternen wirklich ausreichend Licht spendeten. In speziellen Gaswerken erzeugte man aus Kohle brennbares Gas. Dieses leitete man über ein Rohrnetz zu den Laternen.
Die Stadt Hannover schloss am 26.02.1825, also auf den Tag genau 192 Jahre vor dem Erscheinen dieses Artikels, einen 20 Jahresvertrag mit den Briten. Die Lindener sagten sich, lass das die Hannoveraner testen, wir können auch im Dunkeln unser Bier trinken.
Jetzt ging es aber darum, wo baut man ein Gaswerk, die Hannoveraner hatten Angst vor Explosionen und Gasgeruch. Der Vertrag war geschlossen, aber ein Grundstück für das erste Gaswerk Deutschlands gab es noch nicht.
Nach einer längeren Verhandlung mit „Kalkjohann“ Johann Egestorff, kauften die Angsthasen aus der großen Stadt ein Grundstück am Rande von Linden, sollten doch die Lindener Arbeiter an dem Gestank und den befürchteten Explosionen zugrunde gehen. Nachdem der Vertrag geschlossen war, wurde innerhalb von 3 Monaten in der Glocksee das Gaswerk gebaut. Heute hätte man in 3 Monaten nicht einmal einen gemeinsamen Termin gefunden um sich über ein solches Projekt zu beraten. 1829 erhielt die Glocksee den Status der eigenständigen Ortschaft und sagte sich so von Linden los um 1869 von Hannover geschluckt zu werden.
Am 12.08.1826 startete der Probebetrieb und ab dem 02.09.1826 erleuchtete die Altstadt Hannovers als erste Stadt auf dem europäischen Kontinent auch nachts fast taghell. Hannover war kurzfristig hellauf begeistert, doch als der Winter kam und die Gasrohre einfroren, erloschen nicht nur die Laternen, sondern auch die Begeisterung der Bürger Hannovers.
Erst als Ernst Körting, Vater der Gründer der hannoverschen Firma Körting, die Leitung übernahm, lief es rund im Gaswerk. Das war allerdings ein Hammerjob für Körting, denn er musste alles aufbauen und in den ersten Jahren war er das Mädchen für alles.
Aber es lohnte sich, denn die Gasbeleuchtung wurde stabil und zog so in die Privathaushalte ein. Hannover wurde eine erleuchtete Stadt. Schön finde ich die Geschichte, dass die Verträge mit den Gasbeziehern nach Uhrzeiten geschlossen wurden. Bis 1852 stand in Verträgen, dass die Lichter je nach Tarif um 21, 22 oder 23 Uhr gelöscht werden mussten. Mir ist leider nicht bekannt, ob es damals schon „All-in“ Verträge gab. Geprüft wurde das, durch Angestellte der Gaswerke, die in Hannover statt der Nachtwächter rum liefen und kontrollierten, ob sich die Vertragspartner auch vertragskonform verhielten. Dieser Job entfiel 1852 als die ersten Gasmesser eingesetzt wurden. Fortschritt hat schon damals Arbeitsplätze gefressen und neue ausgespien.
Was machten die Lindener? Man ertrug die Dunkelheit und auch den Gestank des Gases bis 1854. Dann waren auch die Herren der Lindener Politik bereit in das Licht zu investieren und in Linden wurden die ersten Laternen aufgestellt.
Das Gaswerk in der Glocksee sorgte auch dafür, dass der Bahnhof Küchengarten besser ausgelastet wurde, denn die Kohleanlieferung aus dem Ruhrgebiet erfolgte über den Küchengarten. Weiter wurde die Kohle mit einer Drahtseilbahn über die Ihme transportiert. Leider riss das Seil mehr als einmal, sodass die Ihme stark verschmutzt wurde, was aber aufgrund der an der Ihme liegenden Industrieanlagen nicht mehr wirklich ins Gewicht fiel. Wahrscheinlich war der Fluss nicht so stark verschmutzt wie es das Ihmezentrum heute ist, aber das sei nur am Rande erwähnt. Auf jeden Fall baute man eine Eisenbahnbrücke, ausschließlich zur Versorgung des Gaswerkes.
Doch so langsam hielt elektrisches Licht Einzug in die Fabriken und Privathaushalte. Das Gas bezog man als Ferngas aus den Kokereien des Ruhrgebiets und so wurde das Gaswerk Glocksee nach 104 Jahren geschlossen. Nur die Gasspeicher blieben in Betrieb, genauso wie die Gaslaternen bis 1983 das Stadtbild prägten.
Die alten Industrieanlagen an der Glocksee sind längst abgerissen nur im alten Fuhramt entstand im Jahre 1972 das Unabhängige Jugendzentrum (UJZ) Glocksee. In der Anfangszeit musste man sich fragen was gefährlicher war, die Besucher des UJZ Glocksee oder die großen Gasbehälter?
Auf dem restlichen Gelände entstanden Verwaltungsgebäude der Stadtwerke und seit 2011 wird dort eine Parkanlage angelegt. Bevor der Park aber angelegt werden konnte, musste der Boden erst von Altlasten befreit werden, dafür mussten auch belastete Bäume und Sträucher gefällt werden. Wie es heute üblich ist bildete sich eine Bürgerinitiative mit dem Namen „gegen das Calenberger Loch“. Die Leute ketteten sich an Bäume an, erreichten aber nichts. Heute kräht kein Hahn mehr danach, denn die Grünanlagen am Ihmeufer sind optisch schön und werden von der Bevölkerung gerne besucht. Auch die Helden der Limmerstraße wollen sie im Sommer mal besuchen, mit dabei, bestimmt eine Kiste Herri.
Ach ja, wie das Fußballspiel damals ausging weiß ich leider nicht mehr, auf jeden Fall haben wir das Spiel nach dem Hundebiss abgebrochen, denn es wurde dunkel und die Laternen gingen an.